Rezitativ

Toni Morrison, Rezitativ, Rowohlt 2023

Toni Morrisons spielt in dieser Erzählung mit unserer Wahrnehmung und unseren eigenen Bildern und Prägungen. Welche der beiden Hauptfiguren ist schwarz, und welche ist weiss?

Twyla und Roberta begegnen sich als Achtjährige im Kinderheim. Sie werden Vertraute, geben einander Halt und Trost. Sie sind unzertrennlich, doch später verlieren sie sich aus den Augen. Zufällig begegnen sie einander immer wieder, erst in einem Diner, dann im Supermarkt und bei einer Demonstration. Sie stehen in jeder Hinsicht auf verschiedenen Seiten und sind sich uneinig über die wichtigsten Fragen – trotzdem fühlen sich die beiden Frauen einander tief verbunden.

Dieses Buch lässt uns über Vorurteile, Wertungen und eigene Prägungen nachdenken. Wie offen und wertfrei sind wir? Welche Bilder tragen wir in uns mit? Welchem Bild entsprechen wir selbst oder wollen wir von uns abgeben?

Gommer Sommer

Kaspar Wolfensberger, Gommer Sommer, Kampa-Verlag 2020

Eine wunderschöne Berglandschaft, zwei hässliche Morde. Und ein Polizist ausser Dienst, den man liebend gerne bei seinen Wanderungen und Ermittlungen im Walliser Goms begleitet.

Bislang hat Alois Walpen, besser bekannt unter seinem Spitznamen Kauz, seine Ferien in einem umgebauten Speicher in Münster verbracht. Nachdem er es sich mit der Zürcher Polizeileitung verscherzt hat, zieht sich der Kriminalpolizist a. D. ins Walliser Goms zurück. Gewöhnlich stehen dort Trockenfleisch, Käse und Heidelbeerlikör für ihn bereit, diesmal wird Kauz jedoch von einer Leiche empfangen, die an einem Balken baumelt. Während die Kollegen vor Ort von einem Selbstmord ausgehen, beginnt er auf eigene Faust zu ermitteln. Derweil bearbeitet Immobilienkönig Anton Z’Blatten, der »Gommer Napoleon«, die Dorfversammlung: Das Gommer Highland Resort sei das Herzstück eines neuen Tourismusmodells, das Schule machen werde. Das Wallis, die ganze Schweiz, nein, alle Alpenländer würden auf Münster blicken. Wieso man diesen Mann frei schalten und walten lasse, fragt Kauz und erhält eine deutliche Antwort: »Weil bei uns im Goms, und überhaupt im Wallis, das Recht am Verludern ist.« Genau der richtige Ort für einen Polizisten im Unruhestand.

Dieses Buch ist eine gute Vorbereitung auf Wanderferien im Wallis. Mit seinen liebevoll beschriebenen, charakterstarken Persönlichkeiten nehmen einem „Chüüz“  und Max zumindest gedanklich auf die Wanderungen im Goms mit. Spannend erzählt wird der Krimi aufgelöst, und es gelingt einem in Verbundenheit mi den Personen nach Ende des Krimis wieder entspannt einzuschlafen.

Morgen, morgen und wieder morgen

Gabrielle Zevin, Morgen, morgen und wieder morgen, Eichborn 2023

Mitte der 90er-Jahre in Massachusetts: An einer U-Bahn-Station trifft Sadie, hochbegabte Informatikstudentin und angehende Designerin von Computerspielen, ihren früheren Super-Mario-Partner Sam wieder. Die beiden beginnen, gemeinsam an einem Spiel zu arbeiten, und schnell zeigt sich, dass sie nicht nur auf freundschaftlicher, sondern auch auf kreativer Ebene ein gutes Team sind. Doch als ihr erstes gemeinsames Computerspiel zum Hit wird, brechen sich Rivalitäten Bahn, die ihre Verbundenheit zu bedrohen scheinen.

Ein Jahrzehnte umspannender Roman über Popkultur und Kreativität, Wagnis und Scheitern, über Verlust und über die Magie der Freundschaft.

Dieses Buch lässt einem eintauchen in die Welt der Game-Entwickler*innen und zeigt auf, dass hinter den Gamegeschichten Lebensgeschichten stecken. Sadie und Sam wachsen einem ans Herz. Gleichzeitig lassen einem die verschiedenen Details ihrer Freundschaftsgeschichte oft schmunzeln und an selbst Erlebtes erinnern.

Das Buch lässt uns die Computergames von einer anderen Seite betrachten. Zudem tut es uns Eltern von gamenden Kindern gut zu erfahren, dass das Zwischenmenschliche beim Gamen nicht verloren gehen muss, sondern darin lebt. Gerne wüsste ich, wie es Sadie und Sam heute geht …

Eine Frage der Chemie

Bonnie Garmus, Eine Frage der Chemie, Piper 2022

Elizabeth Zott ist eine Frau mit dem unverkennbaren Auftreten eines Menschen, der nicht durchschnittlich ist, und es nie sein wird. Doch es ist 1961, und die Frauen tragen Hemdblusenkleider und treten Gartenvereinen bei. Niemand traut ihr zu, Chemikerin zu werden. Ausser Calvin Evans, dem einsamen, brillanten Nobelpreiskandidaten, der sich ausgerechnet in Elizabeths Verstand verliebt. Aber auch 1961 geht das Leben eigene Wege. Und so findet sich eine alleinerziehende Elizabeth Zott bald in der TV-Show »Essen um sechs« wieder. Doch für sie ist Kochen Chemie. Und Chemie bedeutet Veränderung der Zustände …

Dieses Buch ist packend und witzig geschrieben; es bringt uns in eine Zeit zurück, in welcher den Frauen viele Steine in den Weg gelegt wurden, um einen eigenständigen Weg zu gehen. Gleichzeitig war auch den Männern klar vorgegeben, wie ein Mann zu sein hat. Elizabeth Zott und Calvin Evans sind jedoch anders, und ihre Geschichte berührt. Fast könnten wir uns vorstellen, dass es diese beiden Personen so gab …

Das Buch ermutigt uns alle, zu uns und unserer Passion zu stehen, an uns zu glauben und den Mut zu haben, unseren Weg zu gehen. 

Das Flüstern der Feigenbäume

Elif Shafak, Das Flüstern der Feigenbäume, Kein & Aber 2021

Die 16-jährige Ada lebt mit ihrem Vater Kostas in London. Nach dem Tod ihrer Mutter hüllt er sich voll und ganz in Schweigen, weigert sich, ihr über ihre zyprischen Wurzeln zu erzählen. Nur mit seinem Feigenbaum im Garten, welchen er mit aller Liebe hegt, spricht er sich aus.

Doch Ada lässt nicht nach, und sie deckt über verschiedenste Wege die Geheimnisse ihrer Familie auf und lässt sich in die Zeit um 1974, dem griechisch-türkischen Bürgerkrieg in Zypern eintauchen – eine Zeit, in welcher Menschen verschwanden, und Nachbarn plötzlich zu Feinden wurden. Sie beginnt auch, den Tod ihrer Mutter zu verstehen, und ihren eigenen Umgang mit sich und ihrer Familiengeschichte zu finden.

Elif Shafak vermag es, sehr berührend die Geschichte von Zypern näher zu bringen, und gleichzeitig auch aufzuzeigen, wie diese sich in die nächste Generation auswirkt. Traumatas, welche nicht überwunden werden können, Verluste, welche zerstörend wirken, und daneben die tiefgründige, zur Zeit des Bürgerkrieges verbotene Liebe – zwischen Kostas und Defne, einer Türkin und einem Griechen – sowie ich zwischen dem schwulen Wirtepaar.

Und: Der Einblick ins Leben der 16-jährigen Ada in ihrem Übergang zum Erwachsensein, im Umgang mit dem Verlust der Mutter und auch mit sich selbst mit ihren unterschiedlichsten Wurzeln. 

Ein in jeder Hinsicht lesenswertes Buch!

HardLand von Benedict Wells

Benedict Wells, HardLand, Diogenes Verlag 2021

Benedict Wells erzählt in dieser Geschichte einen Lebensausschnitt des fünfzehnjährigen Sam, der im Sommer 1985 eine Zeit verschiedenster Veränderungen erlebt. «In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.» … so startet das Buch, welches uns Leser/-innen eine sich zusammengefunden Gruppe verschiedenster Jugendlicher kennenlernen lässt, die sich wohl alle als Aussenseiter/-innen bezeichnen würden. Alle stehen an der Wende zum Erwachsensein und so auch am Punkt des Loslassens vom bislang Vertrauten. Aneinander erleben sie, wie unterschiedlich Ängste sein können, was jeder an Verborgenem mit sich trägt und was Mut wirklich bedeutet.

Gleichzeitig wird Sam nach langjähriger Krebserkrankung seiner Mutter mit ihrem Tod konfrontiert und ist froh, gleichzeitig Kirstie zu haben, welche ihm die 49 Geheimnisse der Kleinstadt Grady aufdeckte.

Benedict Wells lässt einem in die Zeit der 80er Jahre eintauchen, nochmals Jugendliche sein, sich seiner ersten Liebe erinnern und vielleicht auch über die eigenen Unsicherheiten und Ängste heute schmunzeln. Gleichzeitig erlaubt dieser sehr feinfühlige Roman es auch, ein bisschen etwas darüber zu erfahren, wie ein Jugendlicher mit dem Tod eines Elternteiles umgeht.
Ich kann das humorvolle und gleichzeitig auch bittersüsse Buch in jeder Hinsicht wärmstens empfehlen und habe selbst Sam, Kirstie, Cameron und Hightower ganz ins Herz geschlossen.

Normale Menschen von Sally Rooney

Sally Rooney, Normale Menschen, Luchterhand Verlag, 2020

Connell und Marianne wachsen beide in unterschiedlichen sozialen Schichten in einer Kleinstadt Irlands auf. Während seine Mutter mit wenig Geld, jedoch viel Liebe und Aufmerksamkeit Connell ein willkommenes Daheim erschafft, erlebt Marianne trotz Reichtum viel Kälte und Gewalt zuhause und ist davon geprägt. Er ist in der Schule der grosse Star der Fussballmannschaft, sie die Aussenseiterin; am Trinity College in Dublin ändern sich die Karten.

Connell und Marianne fühlen sich über die Faszination für Literatur und tiefgehende Diskussionen verbunden, gleichzeitig erlebt ihre Beziehung ein stetiges Auf-und-Ab.

Sally Rooney beschreibt die Beziehung zweier unterschiedlicher, junger Menschen, welche tiefste Verbundenheit zueinander verspüren, doch gleichzeitig immer wieder über ihre Prägungen stolpern. Eine Geschichte um das Leben von Freundschaft und Beziehung, Sexualität und Macht.

Vom Ende der Einsamkeit von Benedict Wells

Benedict Wells, Vom Ende der Einsamkeit, Diogenes Verlag, 2016

Nach dem unerwarteten Tod ihrer Eltern wachsen Jules und seine beiden Geschwister Marty und Liz im Internat auf und finden ihren Weg ins Erwachsensein. Der tiefe Schicksalsschlag aus der Kindheit verbindet sie drei Geschwister eng. Unterschiedlich sind sie vom Verlust geprägt, setzen sich damit auseinander und bewahren sich ihre teils sehr idealisierten Erinnerungen an ihre Eltern. Jules sucht sich dabei seinen Weg aus der Einsamkeit zusammen mit Alva, seiner Freundin aus der Internatszeit, und erlebt dabei eine innige Liebe.

Benedict Wells gelingt es mit seinem Roman, den unerwarteten Tod der Eltern von drei jugendlichen Geschwistern in eine Geschichte einzubinden, welche Mut macht. Er widerspiegelt die Unterschiedlichkeit, wie die Geschwister damit umgehen und wie die Trauer sie auch im Erwachsensein immer wieder einholt. Trotzdem gelingt es ihnen, ihren Weg zu gehen, und sich auch in Bindungen einzulassen.

Das Rote Adressbuch von Sofia Lundberg

Sofia Lundberg, Das rote Adressbuch, Goldmann Verlag, 2018

Sehr feinfühlig beschreibt Sofia Lundberg in ihrem Buch das innere Abschiednehmen vom Leben. Abschiede von den einzelnen wertvollen Personen, welche Doris in ihren 96 Jahren begegnet und in ihrem roten Adressbuch festgehalten sind. Abschied gleichzeitig auch von ihrer eigenen Eigenständigkeit und dem Dasein.
Gleichzeitig erleben wir Jenny in ihrem intensiven Familienalltag, welche alles dafür gibt, um Raum zum Abschiednehmen von ihrer „Grossmutter“ zu

Umgang mit Abschied, Tod und Liebe über und zwischen verschiedenen Generationen – sehr berührend beschrieben, so dass sicher jeder daraus etwas mitnehmen kann!

Die tragenden Worte von Doris‘ Mutter begleiteten sie durchs Leben … vielleicht auch uns:
„Ich wünsche dir von allem genug. Genug Sonne, die Licht in deine Tage bringt, genug Regen, damit du die Sonne schätzen kannst, genug Glück, das deine Seele stärkt, genug Schmerz, damit du auch die kleinen Freuden des Lebens geniessen kannst, und genug Begegnungen, damit du die Abschiede besser verkraftest.“

Die Deutschlehrerin von Judith Taschler

Judith W. Taschler, Die Deutschlehrerin, Droemer Verlag, 2014

Nach 16 Jahren ohne Kontakt begegnen sich die Deutschlehrerin Mathilda und der Jugendbuchautor Xaver scheinbar zufällig wieder. Sie blicken dabei zurück in die Zeit ihrer Beziehung und auch den abrupten Abschied ohne Erklärung durch Xaver. Weshalb verliess er Mathilda, welche sich so sehnlichst eine Familie mit ihm wünschte? Und was steckt hinter der Geschichte seines spurlos verschwundenen Sohnes?

Judith Taschler führt uns Leser/-innen durch Beziehungsgeschichten verschiedener Generationen. Im Zentrum stehen Mathilda und Xaver, welche sich nach 16 Jahren wieder begegnen, auf ihre Beziehung zurückblicken und schauen, was noch ist. Geschickt wechselt sie dabei die Perspektiven, womit Spannung entsteht und die Gefühle der einzelnen Charaktere klarer werden: Liebe, Eifersucht, Enttäuschung, Verbitterung, Überforderung, Rachegelüste, …
In diesem Buch begegnet sich jeder auch mal selbst, denn wer stand nicht auch schon an einer Weggabelung und musste sich zwischen Vertrautem, Harmonischem und Abenteuerlichem, Lustvollem entscheiden. Ob die Entscheidung wohl richtig war?